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Vorwärts gerichtet bzw. faced forward Tragen

Man sieht es immer wieder: Kinder, die mit dem Gesicht nach vorne in der Tragehilfe getragen werden. Dafür erntet man häufig kritische Blicke, im Internet wird dazu schnell und unsachlich kommentiert. Was hat es mit dem vorwärts gerichteten Tragen auf sich und ist es wirklich so schädlich? Wir schauen uns das mal genauer an.


Baby in der Tragehilfe nach vorne gerichtet - KI generiert

Anmerkung - Um keinen Tragehilfenhersteller an dieser Stelle ungewollt zu kritisieren oder aufgrund des heiklen Themas schlecht dastehen zu lassen, verzichte ich diesmal auf Bilder. Einzig zur Veranschaulichung des Themas wurde das oben gezeigte Bild mittels KI generiert. Auch hier habe ich das Gesicht des Babys zensiert. Kinder gehören für mich einfach nicht ins Netz.


 

Eltern unter sich... wer schon mal ein Bild von sich gepostet hat, auf dem das Baby in Blickrichtung nach vorne in der Trage sitzt, bekommt schnell heftige Kritik. Es fallen in kürzester Zeit Sätze wie:


"SO bitte niemals das Kind tragen, davon bekommt es einen Hüftschaden!"

Puh. Ganz schon hart irgendwie. Ich jedenfalls mag keine Pauschalaussagen. Ich finde es genauso falsch zu behaupten, etwas NIE tun zu dürfen, wie DIE eine Trage anzupreisen, die für alle super sein soll. Mein Job als Trageberaterin ist es, für euch das Beste aus der Situation rauszuholen. Deshalb distanziere ich mich ganz klar von der sog. "Tragepolizei" und versuche offen für alles erdenkliche zu sein. Wir schauen uns also einmal beide Seiten des vorwärts-gerichteten Tragens an. Was du am Ende des Tages damit machst, ist natürlich ganz allein deine Entscheidung.


Warum das Kind nach vorne drehen?


Es hat durchaus einen Sinn, wenn Eltern ihre Kinder nach vorne in der Trage drehen. Meistens sind die Kinder 3 bis 4 Monate alt, strecken sich in der Tragehilfe mittlerweile in alle Richtungen, sind vielleicht plötzlich ganz unzufrieden und zeigen ihren Bezugspersonen ganz deutlich: Ich möchte mehr sehen/fühlen/interagieren.


Diese Zeichen des Kindes deuten die meisten Eltern auch richtig und möchten diesem Bedürfnis nachkommen, indem sie das Kind während dem Tragen einfach nach vorne drehen. Oft sind die Kinder damit auch recht happy, strampeln freudig herum, greifen möglicherweise nach Dingen und schauen sich mit großen Augen um. Auf den ersten Blick scheint das eine tolle Lösung zu sein, zumal der ein oder andere Hersteller oder Verkäufer im Laden damit wirbt, man könne mit der Trage XY insgesamt 4 Tragepositionen nutzen! 4 sind immerhin mehr als 3 (vor dem Bauch/seitlich/am Rücken) und somit ein gutes Verkaufsargument.


In Ländern außerhalb des deutschsprachigen Gebiets, besonders in Amerika, ist es ziemlich gängig, dass Kinder mit dem Gesicht nach vorne getragen werden. Trotz aller gut gemeinten Warnungen von besorgten Fremden im Internet, sieht man diese Trageart häufig in Filmen und Werbespots. Kein Wunder also, dass Eltern sich denken: "Das probieren wir auch mal aus!" und sich dieser Methode bedienen.

Der "Hüftschaden"

Es ist oft so, dass viele Tragehilfen keine ergonomische vorwärtsgerichtete Position erlauben. Es gibt jedoch Ausnahmen, die auch bei einer Blickrichtung nach vorne eine relativ gute Anhock-Spreiz-Stellung ermöglichen. Dies hängt sowohl von der Tragehilfe selbst als auch von deren korrekter Anwendung und Einstellung ab. Du solltest daher stets die Herstelleranleitung beachten und bei Bedarf eine Trageberatung in Anspruch nehmen.


Fakt ist: es gibt keine Studie, die sicher belegen kann, dass es durch "falsches" Tragen am Ende zu Schäden an der Hüfte kommt. Solche stichprobenartigen Studien mit Neugeborenen wären auch schlichtweg unethisch, wenn ein Schaden zu erwarten wäre. Aus dem selben Grund gibt es auch kaum Studien zu Medikamenten in der Schwangerschaft, sondern meist die Empfehlung, das Präparat nicht zu nehmen oder nur in Rücksprache mit der/dem behandelnden Ärztin oder Arzt. "Wir nehmen jetzt einfach mal XY Babys, machen mit ihnen ABC und schauen, ob es zu einem Schaden kommt oder nicht" - funktioniert glücklicherweise heutzutage nicht mehr.


Je nach Tragehilfe hängen die Beine beim vorwärts gerichteten Tragen ohne ordentlichen Winkel in den Hüftgelenken und ohne Unterstützung der Oberschenkel bis zu den Kniekehlen einfach herunter. Durch die Schwerkraft und das Eigengewicht der Beinchen entsteht natürlich Zug in den Hüftgelenken. Welche Konsequenz das letztendlich hat, lässt sich pauschal nicht sagen. Das ist sicherlich von mehreren Faktoren wie Alter des Traglings, Tragedauer in dieser Position, körperliche Verfassung, Tragehilfe, etc. abhängig.


Das International HIP DYSPLASIA Institute gibt an, dass das Risiko für eine Hüftdysplasie oder -luxation in den ersten 6 Monaten am größten ist, wobei die ungesündeste Haltung für die Hüften dabei gestreckt gehaltene, geschlossene Beine sind (vgl. https://hipdysplasia.org/baby-carriers-other-equipment/).


Dem kommen die meisten Hersteller nach, indem sie das Tragen nach vorne frühestens ab dem 5.-6. Monat empfehlen und eine Obergrenze von 10-20 Minuten angeben. Ob Eltern sich allerdings daran halten, ist deren Verantwortung und nicht die der "bösen" Tragehilfenhersteller.


Hängen die Beinchen nach unten, ohne bis zu den Kniekehlen gestützt zu werden, ist möglicherweise ein weiteres Problem der Druck auf die Genitalien des Kindes. Auch hier hört und liest man so einiges - bis hin zu "so bekommst du später keine Enkel!". Letztendlich kann nicht prophezeit werden, welche Auswirkungen der Druck auf den Intimbereich des Kindes durch das vorwärtsgerichtete Tragen auslöst. Unangenehm ist es sicher allemal.


Für die korrekte Anhock-Spreiz-Haltung bedarf es der Kippung des kindlichen Beckens in einer Vorwärtsbewegung, der untere Rücken ist dabei etwas gerundet. Anders funktioniert es fast nicht. Wenn du möchtest, kannst du gerne mal ein Hohlkreuz machen, den Po rausstrecken und dann versuchen die Knie auf Bachnabelhöhe anzuziehen. Dann machst du deinen Rücken rund und versuchst selbiges nochmal - spürst du den Unterschied?


Das Problem beim vorwärts gerichteten Tragen besteht hier im Körperbau der tragenden Person. Der Babyrücken kann sich kaum durch die Körperform der Bezugsperson runden, was durch Brüste nochmal erschwert wird. Gleichzeitig kann das Rückenteil der Trage den Oberkörper des Babys durch dessen Körperhaltung nicht mehr überall hundertprozentig stützen. Diese Stützfunktion muss das Baby nun aus eigener Kraft leisten, weshalb das Tragen "faced-forward" von den Herstellern auch zurecht erst ab ca. 6 Monaten angegeben wird. Mit zunehmender Stützfunktion der Rückenmuskulatur ist der Rücken des Babys auch weniger gerundet, sondern eher aufgerichtet. Das Alter des Kindes macht beim vorwärts gerichteten Tragen einen großen Unterschied!


Kann dein Baby seinen Oberkörper nicht selbstständig aufrecht halten, sollte es das auch nicht in der Trage müssen. Im schlimmsten Fall sackt das Kind zusammen und das Zwerchfell und Brustkorb werden komprimiert, was letztendlich die Atmung erschwert. Erschwerte Atmung ist - nett ausgedrückt - blöd bei Babys. Zudem kann der Kopf des Kindes nicht abgelegt werden, ohne die Halswirbelsäule nach hinten zu überstrecken. Das Kind hat während dem vorwärts gerichteten Tragen keine Möglichkeit, eine Pause zu machen und sich anzukuscheln.


In einer Literaturstudie kommen Sandeep Vaidya, Alaric Aroojis, und Rujuta Mehta 2021 zu dem Schluss, dass die Lagerung des Babys der einzige beeinflussbare Risikofaktor für eine Hüftdysplasie oder -dislokation darstellt und folgern daraus, dass das Wissen für "hüftsichere" Positionen das Auftreten der Erkrankungen verringern kann. Schlußendlich fordern sie in ihrer Heimat eine Aufklärungskampagne zu richtigen Tragetechniken und richtigem Pucken, um die örtlichen Inzidenzen zu verringern (vgl. Entwicklungsdysplasie der Hüfte und postnatale Lagerung: Die Rolle des Puckens und des Tragens - PMC (nih.gov).


(zu) viel zu sehen?


Wie bereits erwähnt, haben die tragenden Bezugspersonen oft das Gefühl, das Baby möchte in der Trage mehr sehen und drehen es deshalb nach vorne um. Und tatsächlich staunen die Babys nicht schlecht in der neuen Perspektive.


Das kommt daher, dass sich im Alter zwischen 3 bis 4 Monaten das beidäugigie und farbige Sehen entwickelt und das Baby nun Bewegungen mit den Augen verfolgen kann (Das Sehvermögen des Säuglings | kindergesundheit-info.de). Spannend! Und das möchte natürlich erprobt werden. (Übrigens wollen auch Tragekinder irgendwann selbst laufen, sobald sie können... - das nur am Rande).


Dreht man das Baby nun in der Trage nach vorne, scheint es sichtlich glücklich zu sein. Es strampelt und gluckst herum und strahlt bis über beide Ohren. Hier sollten Bezugspersonen die Umgebung gut einschätzen. Gibt es viele Bewegungen, z.B. durch andere Menschen, häufig vorbeifahrende Autos, usw.? Gibt es ansonsten viele visuelle Reize, wie Lichter, Kontraste, Farbwechsel etc.?

Die Quittung für ein Baby mit einem überreizten Nervensystem erhalten Eltern leider oft abends. Das Baby weint, ist unruhig und nichts scheint so richtig zu helfen, obwohl eigentlich alle Bedürfnisse erfüllt sein müssten.


An dieser Stelle möchte ich nochmal auf die Altersempfehlung von ca. 6 Monaten beim Tragen nach vorne hinweisen! In dem Alter spricht sicher nichts dagegen, in einer moderaten Umgebung das Baby für eine kurze Zeitspanne nach vorne gerichtet zu tragen. Allerdings wiegen Kinder mit 6 Monaten auch schon einiges und die Belastung auf den Körper der tragenden Person ist durch den veränderten Schwerpunkt erhöht. Meiner ganz persönlichen Meinung zufolge hat das vorwärts gerichtete Tragen gegenüber dem Tragen auf dem Rücken oder auf der Hüfte keinen Vorteil, wenn die Altersgrenze und Zeitspanne tatsächlich berücksichtigt werden.


Meine persönliche Erfahrung beim Testen


Um sicherzustellen, dass ich auch weiß, wovon ich rede, habe ich das Tragen nach vorne im echten Leben - mit echtem Kind - getestet und bin auf faszinierende Erkenntnisse gestoßen.


Während des Hineinsetzens des Kindes in die Trage fand kaum Interaktion zwischen uns beiden statt. Ich war so damit beschäftigt, das Kind festzuhalten und die Trage anzulegen. Gleichzeitig war das Kind mit der Aufmerksamkeit völlig im Außen.

Anders als beim face-to-face-Tragen kann sich das Kind hier nicht an den Körper der tragenden Person anlehnen und sich selbst anhocken. Es gab keinen Blickkontakt zwischen uns und unser beider Augenmerk lag auf unserer Umgebung.


Sofort kam mir der Gedanke, dass ich beim Rückentragen auch keinen Blickkontakt habe und mich trotzdem verbundener mit dem Kind fühle. Vielleicht liegt das daran, dass der Weg in die Trage ein anderer ist. Oder daran, dass ich den Atem des Kindes im Nacken spüre, die kleinen Händchen in meinen Haaren wühlen und ich fast permanent ein Kichern im Ohr habe. Auf all diese Dinge reagiere ich, wodurch eine ständige Interaktion besteht - auch wenn ich eigentlich gerade etwas anderes tue. Für mich ist es ein wesentlicher Unterschied, ob das Kind vor dem Bauch oder auf dem Rücken in "Fahrtrichtung" schaut.


Grundsätzlich konnte ich aber mit meinem vorwärts gerichteten Kind in der Trage jede Menge Spaß haben. Wir tanzten und lachten, machten kleine Turnübungen und dem Kind hat es natürlich gefallen. Allerdings kam nach etwa 10 Minuten eine neue Erkenntnis dazu: die Belastung auf den Beckenboden ist enorm!


Jaja, das leidige Thema Beckenboden. Ich habe glücklicherweise keine Probleme nach beiden Geburten, aber während des Tragens mit Blickrichtung nach vorne konnte ich nach kurzer Zeit ein Druckgefühl spüren. Das war mir völlig neu.

Der Grund dafür ist der verlagerte Schwerpunkt beim faced-forward Tragen. Die Beine und der Po liegen nicht mehr eng an meinem Körper an. Strampelt das Kind dann noch freudig mit den Beinen und Armen nach vorne, muss ich viel ausbalancieren. Das gesamte Gewicht des Kindes zieht nach vorne, ich muss ins Hohlkreuz gehen, um das auszugleichen. Letztendlich verzichte ich beim vorwärts gerichteten Tragen auf meine Ergonomie und Entlastung durch die Tragehilfe. Dann doch lieber ab auf den Rücken, wo das Gewicht einfach weggezaubert wird.


Die abschließende Bewertung zum Thema vorwärts gerichtetes Tragen


Ich möchte nichts verteufeln und niemandem ein schlechtes Gewissen machen. Kinder explodieren nicht, wenn man sie nach vorne umdreht. In besonderen Situationen kann es sogar notwendig sein, das Kind mit Blickrichtung vorne zu tragen. Pauschal würde ich es als Trageberaterin aber nicht empfehlen, sondern eher dazu raten, auf dem Rücken oder seitlich auf der Hüfte zu tragen.


Wenn du das Kind nach vorne richten möchtest, solltest du darauf achten, dass dies mit deiner Tragehilfe auch explizit möglich ist. Diese Tragen bieten extra dafür vorgesehene Einstellungsmöglichkeiten, um eine bestmögliche Position des Kindes zu erreichen. Wichtig dabei ist wie immer eine freie und ungehinderte Atmung und eine Stützung der Oberschenkel von Kniekehle zu Kniekehle. Achte unbedingt auf eine sehr ruhige und reizarme Umgebung - Volksfeste und Messen sind nicht unbedingt geeignet (klingt logisch? Sieht man trotzdem oft)!

Und vor allem sollte das Kind über eine ausreichende Rumpfmuskulatur verfügen, um sich selbst aufrecht halten zu können. Die meisten Hersteller empfehlen das vorwärts gerichtete Tragen ab etwa 5-6 Monaten für maximal 10-20 Minuten. Dann spricht auch nichts dagegen. Ob und welche Vorteile es für dich und dein Kind hat, kannst nur du sagen.


Ab wann hast du dein Kind nach vorne getragen? Wie fand es die Situation? Welche Vorteile siehst du im vorwärts gerichteten Tragen gegenüber dem Tragen auf dem Rücken? Schreib es mir gerne in die Kommentare!

 
 
 

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